Bewahrte Wissens-Schätze

Wissenschaft hinter Klostermauern

D. Lenz

Vornehmlich den Mönchen ist es zu verdanken, dass es zwischen Völkerwanderung und Renaissance überhaupt ein Wissenschafts-Kontinuum gab. )moc.ailotofkihcunavak(Foto: © 

Mönchisches Leben zwischen Völkerwanderung und Renaissance wird heute vielfach mit Rückständigkeit und Modernisierungsverweigerung assoziiert. Dabei verdankten wir sehr vieles den unzähligen Brüdern (und Schwestern), welche damals hinter Klostermauern Wissen vor den Unbilden der Welt bewahrten und mehrten.

Was die Wissenschaft anbelangte, war der Zusammenbruch des Weströmischen Reiches der folgenschwerste Niederschlag der Menschheitsgeschichte. Neben den gravierenden soziokulturellen Umwandlungen war es vor allem der Verfall von Wissen und Forschung, welche in der römischen Kultur prosperiert hatten. Natürlich betraf das vor allem das Schul- sowie Bibliothekswesen. Doch tatsächlich blieb kaum ein Feld unberührt. Nicht wenige Historiker sehen das, was nach dem Abzug der Römer in ihren Provinzen passierte, als nur mit einem Atomkrieg in heutiger Zeit vergleichbar. Doch schon mit dem Zerfall begann die Rettung der Wissens-Fragmente sowie die Mehrung, Forschung und Weiterentwicklung bis heute. Just hinter Klostermauern.

1. Ein Fels in der Brandung

Über den exakten weströmischen Reichs-Endpunkt ist sich die Wissenschaft uneins, der Zeitraum reicht vom Jahr 475, als der letzte weströmische Kaiser Julius Nepos von Heerführer Orestes aus Rom vertrieben wurde bis ins Jahr 554, als Justinian mit dem weströmischen Hof die letzte staatliche Institution ersatzlos auflöste.

Doch in diesen Raum – sowohl geographisch wie zeitlich – fiel auch der Beginn des christlich-klösterlichen Lebens. Schon seit dem vierten Jahrhundert hatte es im oströmischen Reich Einsiedlerkolonien bzw. mit dem Antoniuskloster in Ägypten bereits monastische Siedlungen gegeben, deren Mitglieder sich einem Tagesablauf des Ora et labora widmeten.

Ebenfalls in den 370ern wurde mit dem Marmoutier bei Tours das erste christliche Kloster auf dem Gebiet Westeuropas begründet, es folgte das St.-Maximin-Kloster in Trier. Was sich aber vornehmlich in jenen, von enormem Umbruch geprägten Zeiten, als unschätzbarer Segen erwies, war die Gründung der Abtei Montecassino im Jahre 529 durch Benedikt von Nursia.

Denn mit der nach ihm benannten Regula Benedicti wurde dort erstmals ein einheitliches Regelwerk für das monastische Leben geschaffen – an dem sich nicht nur der auf dem Montecassino entstandene Benediktinerorden ausrichtete, sondern jeder danach entstandene Orden zu gewissen Teilen. Diese Regelsammlung, besonders ihr Wunsch, Handreichung auch für Ernährung sowie Heilung zu sein, erwies sich als unschätzbar.

Denn gleichsam wie in den folgenden Jahrhunderten die Abteien erblühten und ein reger Austausch zwischen ihnen stattfand, wurden die Bruchstücke an Wissen und Kultur, die aus dem weströmischen Reich gerettet werden konnten, dort gelagert, analysiert. Im Zeitraum zwischen der Völkerwanderung und dem Beginn des Hochmittelalters waren die Klöster in vielen Regionen die einzigen Träger von Wissen, welches über das unmittelbar zur Lebensführung notwendige hinausging. So gilt es heute beispielsweise als gesichert, dass während des langen Zeitraums zwischen Umbruch und Beginn des Hochmittelalters (ca. 1150, also rund 500 Jahre lang) kirchliche Institutionen die einzigen Orte waren, die der breiten Illiteralität etwas entgegensetzen konnten – außerhalb gab es praktisch ausschließlich Analphabeten.

2. Von Autarkie zur Kräutermedizin

Das monastische Leben sollte nach der Regula vor allem so frei von weltlichen Störungen und Einflüssen sein, wie nur irgend möglich:

„Das Kloster soll, wenn möglich, so angelegt werden, dass sich alles Notwendige, nämlich Wasser, Mühle und Garten, innerhalb des Klosters befindet und die verschiedenen Arten des Handwerks dort ausgeübt werden können.“

Dieser Satz aus der Regula garantierte, dass jedes Kloster eine autarke Zelle war, unabhängig von weltlichen Herrschern. Primär führte das dazu, dass im Bereich von Architektur und Bauingenieurswesen ein Status erreicht wurde, der in Westeuropa während zirka fünfhundert Jahren einzigartig war. Die Baumeister jener Zeit waren praktisch ausschließlich Kloster-Zöglinge, die sich nur mit Errichtung und Erhalt klerikaler Gebäude beschäftigten. Erst mit der Gotik formten sich erstmals (teil-)weltliche Bruderschaften, die nur Laienbrüder waren und deren Leben bei Weitem nicht so streng an das Kloster gebunden war.

Zudem führte die Regula Benedicti auch dazu, dass die Medizin überlebte. Sie zwang die Mönche dazu, sich selbst ein enormes botanisches Wissen anzueignen. Das sorgte dafür, dass der Bereich der Kräutermedizin in jenen Tagen stark erblühte. Zudem garantierte sie, dass Klöster über weite Teile des Mittelalters die einzigen Hüter von „echtem“ medizinischen Wissen blieben, das über das Werk von Badern, Scharfrichtern und ähnlichen Berufen, die enorm krude Heilungsformen betrieben, hinausging. Erst ab dem 13. Jahrhundert kam wieder originär-römisches Medizinwissen nach West- und Mitteleuropa – via der sich über Spanien ausbreitenden Mauren, welche dieses Wissen aus oströmischen Quellen hatten. Faktisch waren, bis auf einige Ausnahmen, Mönche und ihre Kräutermedizin für mindestens 700 Jahren die einzigen auf dem Gebiet des ehemaligen weströmischen Reiches, die etwas betrieben, das den Namen Heilforschung verdiente.

Hinzu kam, dass hinter den Klostermauern aus als praktisch einzigem Ort des ehemaligen Weströmischen Reiches noch dessen Sprache aktiv verwendet wurde – Latein. So waren Mönche über einige Jahrhunderte die einzigen Personen, welche das, was die massiven Bücherverluste der Spätantike überlebt hatte, noch entziffern konnten – nebenbei waren die darin vorhandenen Kenntnisse ein wertvoller Beitrag für die Ausgestaltung des praktisch-monastischen Lebens im Sinne der Regula.

3. Capitulare und Vino

Eines der imposantesten Zeugnisse, in welchem Maß damals wissenschaftlich gearbeitet wurde, stellt das Capitulare de villis aus dem späten achten Jahrhundert dar. Es wird zwar Karl dem Großen zugeschrieben. Tatsächlich stützen sich aber vor allem die Inhalte, die mit Botanik und Gartenbau zu tun haben, praktisch ausschließlich auf mönchisches Wissen – auf Neudeutsch: Karls Schreiber hatten monastische Ghostwriter.

Interessant ist dabei vor allem der Teil, der sich mit Wein befasst. Vom Weinbau selbst über die Entsaftung und Lagerung widmen sich gleich mehrere Unterkapitel nur diesem Thema – auch hierhinter stecken abermals Mönche als Wissenslieferanten. Denn Weinbau hat hinter Klostermauern eine enorm umfangreiche Tradition (auch wenn viele Laien die Kombination Kloster & Alkohol vornehmlich bei Bier vermuten). So waren es beispielsweise die Zisterzienser, welche einen auch heute noch hochbeliebten Tropfen erstmals nach Deutschland brachten – den Pinot Noir. Von diesem Spätburgunder ist die Historienkette überliefert: Er wurde in einer Frühform schon zu römischen Zeiten bei Lyon angebaut, nach der Völkerwanderung kultivierten die dort angesiedelten Burgunder das, was von den Rebstöcken noch übrig war, erneut. Schließlich entstanden Klöster in der Region, welche das Burgunder-Wissen durch inner-klösterlichen Austausch ins südwestdeutsche Malterdingen verbrachten.

Und so wie bei diesem Wein verlief es während tausend Jahren bei unzähligen anderen Wissens-Schätzen: Immer waren es letztendlich die Mönche, die:

  • dass, was noch aus antiker Zeit vorhanden war, zusammentrugen
  • es sichteten, katalogisierten, aufarbeiteten, transkribierten (eine Übersetzung fand praktisch nicht statt, wozu auch – es gab außerhalb der Klostermauern sowieso kaum jemanden, der des Lesens mächtig war und für die Mönche war Latein kein Problem)
  • entweder auf diesem Wissen basierend oder gleich „von Null“ ausgehend erneut forschten und so teils Weiterentwicklung, teils Neuentdeckung betrieben.

Allerdings muss dazu auch erwähnt werden, dass diese Zusammenballung von Wissen in den Händen des Klerus auch zu einer enormen kulturellen Schieflage führte – hier eine teils sehr hoch gebildete Minorität, dort die große Masse ungebildeter Analphabeten, wozu oft genug auch Herrscher gehörten.

Das war nicht nur per se ein Problem, sondern auch, weil diese Monopolstellung es ermöglichte, unliebsame, d.h. nicht der vorherrschenden papistischen Ansicht genehme, Erkenntnisse auch schlicht und ergreifend hinter den meterdicken Mauern von Klöstern und Kirchen zu verbergen.

Dennoch: Die heutige wissenschaftliche Sichtweise ist die, dass der (ge-)wichtige Umbruch am Ende des Mittelalters, die Renaissance, vor allem was die Naturwissenschaften anbelangt, es niemals so „leicht“ gehabt hätte, wenn es nicht in ganz Europa enorme Starthilfe durch das gegeben hätte, was Mönche einerseits über die Jahrhunderte bewahrt, andererseits während dieser Zeiträume selbst (weiter-)entwickelt hatten.

Spannend & Interessant
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